Wie Toleranz auch in der Politik wirkt und die Welt verändert, erklärte Henning Scherf am 1. Oktober 2013 in einem Vortrag im Wiesbadener Haus an der Marktkirche. Der ehemalige Bremer Bürgermeister und bekennender Kriegsdienstverweigerer beschrieb friedenstiftende Beispiele durch Toleranz in der Politik.
Deutschland beschrieb Henning Scherf als ein Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ermordung von sechs Millionen Juden in der Toleranz ganz erstaunliches erreicht habe. „Wer hätte jemals gedacht, dass wir aus dieser Katastrophe wieder herauskommen,“ fragte er. Aber durch die ganze Gesellschaft hindurch habe es ein Aufwachen gegeben. Beeindruckt habe die Deutschen die sofortige Hilfe der Amerikaner, CARE Pakete und Wiederaufbau. Aus dieser Erfahrung hätten die Deutschen viel gelernt. So habe man nach der Wende 1989 „nicht die große Abrechnung gemacht“. Ihn, den Pazifisten und Wehrdienstverweigerer, habe die Friedlichkeit der Machtübergabe erstaunt und beeindruckt. Diese überraschende und friedliche Wende wertete Scherf als Zeichen dafür, dass die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und des Neuanfangs dahinter gestanden haben. „Heute sehen uns die Koreaner erstaunt an und fragen uns, wie wir die Wiedervereinigung hingekriegt haben.“
„Menschenrechte sind die Voraussetzung für Toleranz.“ Seit der französischen Revolution habe der Kampf um die Menschenrechte nicht aufgehört. Wie schwer der gesellschaftliche Rahmen erkämpft werden muss, den Toleranz und Respekt vor dem anderen braucht, beschrieb Scherf am Beispiel des ersten schwarzen Präsidenten in Südafrika, Nelson Mandela, den er persönlich kennt. 28 Jahre lang habe Mandela aus dem Gefängnis heraus den bis 1990 verbotenen Afrikanischen Nationalkongress (ANC) geführt, „aber nicht zum Kampf, sondern zur Versöhnung“. Heute sei Südafrika ein Vorbild für viele in der Welt. Als klassisches Vorbild für Toleranz nannte Scherf die gewaltfreie Befreiung des riesigen indischen Kontinents von der englischen Kolonialherrschaft.
Insgesamt gesehen sei es aber immer noch so, dass viele Politiker glauben, nur mit Mord und Kriegsdrohungen Politik machen zu können. „Wir sind ein Globus, auf dem das Morden überhaupt nicht aufgehört hat.“ Nach dem Fall der Sowjetunion habe man gedacht, dass nun eine friedliche Zeit beginnt. Aber es gehe eben immer um die Ökonomie, also zu Macht und Reichtum zu kommen. Präsident Putin baue ein geradezu rassistisches Feindbild gegenüber den Tschetschenen auf, um seine militärische Stärke auszubauen. Berlusconi baue Feindbilder auf, wenn er behauptet, dass die Deutschen Italien ausrauben. Und den Rassismus als Machtinstrument hätten nicht nur die Deutschen eingesetzt. Als Hauptgrund für Intoleranz nannte Scherf die „soziale Katastrophe“. Viele Menschen hätten keine Perspektive für ihr Leben.
„Toleranz braucht als erstes faire Lebensbedingungen“, also eine gerechte Regierung und eine unabhängige Rechtsprechung. Im Alltag erwache die Toleranz aus der offenen Begenung mit vielen positiven Erfahrungen. Als frühes Beispiel für Toleranz führte der ehemalige Bremer Bürgermeister die Städte an. Schon im Mittelalter seien die Hansestädte das große Vorbild für Toleranz gewesen. Der bekannte Satz „Stadtluft macht frei“ gelte nicht nur für Bremen, sondern für alle großen Städte. Hier sei der Landbewohner frei gewesen und die Städte hätten gern Fremde aufgenommen, um sich weiter zu entwickeln.
Eingeladen hatten den weltweit gereisten Gast die Evangelsiche Stadtakademie und der Evangelische Bund. Der nächste Gast in der Veranstaltungsreihe „Toleranz“ ist der Warschauer Journalist Adam Krzemiński zur “Toleranz im europäischen Diskurs“ am 8. Oktober um 19.30 Uhr im Hessischen Landtag.